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  Forschungen im Transitorischen
Zu Arbeiten von Susanne Ahner

I. Walter Benjamin war wohl eine jener Personen, die in besonderer Weise geschichtliche Umstände, Atmosphären und Veränderungen spüren und reflektieren konnten. Im Berlin der späten 1920er Jahre durchlebte er eine brodelnde Zeitphase und befasste sich mit der eigenen Kindheit um 1900, im Passagenwerk mit dieser Bauform des 19. Jahrhunderts, die Raum, Ort und Bewegung mischte und deren Lebensgefühl sich zu Lebzeiten Benjamins verdichtete und mit der Öffnung ins Massenhafte eine tragische Komponente hinzu gewann. Sein nach der Flucht nach Paris publizierter folgenreicher Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit markiert einen ähnlichen Vorgang: eine länger bereits absehbare Entwicklung kulminiert in einer Übergangssituation, deren Konturen spürbar, aber noch keineswegs völlig auszuloten sind.

II. Dass dieser große Wanderer in den Arbeiten von Susanne Ahner wiederholt anklingt, ist kein Zufall. Hellsichtigkeit gegenüber dem Transitorischen, sensible Genauigkeit im Umgang mit der umgebenden Geschichte, und nicht zuletzt eine große Offenheit für noch nicht abzusehende Veränderungen kennzeichnet die Arbeiten der Künstlerin, seit sie akademische Prägungen hinter sich gelassen hat und sich ins Offene gewagt hat. Dass sie aber nicht etwa eine weitere künstlerische Antwort auf die Thesen mit der Reproduzierbarkeit lieferte, ist recht spezifisch für Susanne Ahner. Es sind die Wege und die Orte Benjamins, mit denen sich ihre Arbeit „Unterwegs auf der argentinischen Allee“ 2005 beschäftigt. Das Erfahren durch eigenes Gehen, das Wahrnehmen durch die Entwicklung einer eigenen Vision durch die Mitmacher ihrer Arbeit ist programmatisch. Konsequent bietet sie den Erwerb einer Schokolade an, die als Wegzehrung ebenso Sinn macht wie als Belohnungseinheit für den geleisteten Verzicht auf Bestätigungskultur. Hier liegt auch das eigene Terrain der bildenden Künstlerin gegenüber dem Theoretiker: Kunst ist eine Erfahrungswissenschaft.

III. Mit dem Kunstbetrieb hat Susanne Ahner keine übergroße Schnittmenge. Im Gegenteil, mit der Beseitigung von Stellwänden und Fensterblenden im zum vorübergehenden Kunstort gewordenen ehemaligen S-Bahnhof Westend wird sie sich mt ihrer Arbeit „Zwischenstation“ 1998 im KollegInnenkreis nicht nur Freunde gemacht haben. Die Wiederinbetriebnahme des Bahnhofs als transitorischer Ort ist gleichwohl ein im Wesentlichen künstlerischer Akt. Fenster zu putzen und Türen zu öffnen: das gehört dazu, wenn man den Bahnhof als einen Kunst-Raum ernst nehmen möchte, der Anlaufstelle und Aussichtspunkt für kommende Erlebnisse ist. Dass Susanne Ahner zusätzlich KollegInnen einlädt, ist nicht nur ein häufiges Verfahren in ihrer Arbeit, sondern angesichts der Funktion eines Bahnhofs als Treffpunkt zu gemeinsamen Exkursionen stimmig. Zudem ist Ahners Maßnahme durchaus auch selbst als Ausblick konzipiert: der möglichen Wiederverwendung als Bahnhofsgebäude gibt die Künstlerin die denkbar besten Argumente mit auf den Weg. Aber wie Geschichte so ist: „Juli 2002 ist das umgebaute Gebäude Sitz von Steuerberatern, Immobilienhändlern, Finanzunternehmen und der Weinhandlung ...“ verkündet 2008 die Homepage des Stadtbezirks Charlottenburg.

IV. Soziale Strategien und das Einmischen in soziale Räume sind ein entscheidendes Arbeitsfeld der als Bildhauerin Ausgebildeten. Dabei zieht sie durchaus eigene Konsequenzen aus der Forderung von Joseph Beuys nach der „sozialen Plastik“. Einerseits sind es die MitmacherInnen ihrer Kunst, denen sie – mitunter entscheidende – gestalterische Spielräume lässt. Recht häufig ist es aber auch der Ort und die ihm zukommende Funktion, an dem die gestaltende Arbeit Susanne Ahners ansetzt. Das können innerstädtische Plätze sein wie Platz vor dem S-Bahnhof in Berlin-Pankow, in den sie den Namen der ehemaligen Zigarettenfabrik „Garbáty“ in die Jetztzeit zurück holt, oder die „Kumpelplätze“, partizipativ angelegte Entwicklungsprojekte im verödenden Stadtgefüge von Sangerhausen. Räume sind bei Susanne Ahner aber auch im großen Maßstab anzutreffen: Das Landschaftsgefüge, das die Elbe entwässert, oder aber der nach Nationen aufgeschlüsselte Einzugs-Bereich der Doppelstadt Dessau-Rosslau. So unterschiedlich die Beschäftigungen mit diesem Phänomen auch ausfallen, es gibt Konstanten in den Ansätzen Ahners: zum Raum gehört seine Atmsophäre, seine Geschichte als Ort – und nicht zuletzt sein Potential, das ihre künstlerischen Maßnahmen zu entwickeln helfen.

V. Bei den seinerzeit richtungsweisenden Kunsthistorikern Aby Warburg und Erwin Panofsky hat sich Benjamin vergeblich um eine Einbindung beworben. Möglicherweise war seine offene Formulierungskunst eine zu starke Warnung an die erfolgreich um Deutungen und Deutungshoheit bemühten Gelehrten, dass in ihrer Zeit geschichtliche Strukturen umbrachen und methodische Schlagwetter drohten. Das offene Visier einer bildnerischen Form, die bewusst riskiert, mitunter nicht in erster Linie als Kunst wahrgenommen zu werden: für die Arbeiten Susanne Ahners ist es ein auszeichnendes Prädikat ebenso wie Ausdruck einer Skepsis gegenüber historisch allzu verfestigten Formeln, Regeln und Verfahrensweisen. Auch wenn die Künstlerin an bestimmten Interessen, Elementen und Handlungen ankert, sie ist alles andere als ein sich über Material oder Form festlegendes Markenzeichen. Ihre an der Vergangenheit geschulte und so genau mit transitorischen Vorgängen umgehende Kunst ist so stark auf das noch nicht Akzeptierte ausgerichtet, dass es wohl kaum schnell im Mainstream breiter Wahrnehmung zu geraten und verglühen droht. Oder, um es mit den Worten von Walter Benjamins berühmten Aufsatz zu sagen: "Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist."

Johannes Stahl 2008


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